Auszug aus dem Vorwort

Sonnige Herbsttage, Fahrten entlang des Rheins und seiner Umgebung. Heidelberg, Ludwigshafen, Speyer, Mainz, Bonn. Orte, die das Leben von Helmut Kohl geprägt haben. Orte, die er geprägt hat. Dort und in Berlin sprach ich mit 46 Zeitzeugen, die ihn seit den 1950er-Jahren auf seinem politischen Weg begleitet haben. Ich stand mit dem ehemaligen Innenminister Heinz Schwarz über dem Rhein nahe Adenauers Wohnort, spazierte mit Kohls Vertrautem Hans Terlinden durch das Mainzer Regierungsviertel, besuchte den Dom zu Speyer, der Kohl so viel bedeutet. Ich erhielt Einlass in Wohnzimmer, Seniorenheime, Archive. Mehr und mehr konnte ich meinen Blickwinkel erweitern, um mich meinem Vorhaben anzunähern.

Zugleich empfand ich mein Forschen als eine Zeitreise. Mehr als ein Dutzend der Gesprächspartner wurde zur Zeit der Weimarer Republik geboren. Beeindruckt haben mich in besonderer Weise ihre Schilderungen von Erlebnissen aus dem Zweiten Weltkrieg, die umso deutlicher machten, warum das Thema „Nie wieder Krieg!“ ein so zentrales für diese Generation war. „In fünf bis sechs Jahren gibt es zu diesem Thema keine Erinnerungsträger mehr, das muss man ganz nüchtern feststellen“, so einer der Zeitzeugen, der mir lebhaft aus vergangenen Jahrzehnten berichtete – und bald nach unserem Treffen verstarb. „Ich habe damals die Gespräche geführt“, bemerkte ein anderer über einen konkreten Sachverhalt, „wenn ich nicht mehr da bin, gibt es niemanden mehr, der die Zusammenhänge dazu überblickt.“

Von 2006 bis 2010 habe ich Helmut Kohl aus der Perspektive seines persönlichen Mitarbeiters erlebt. Im Sommer 2009 legte ich ihm bei einem Besuch in Ludwigshafen erstmals meine Idee dar, die vorliegende Dissertation zu beginnen. Ich stellte mir zugleich die Frage, ob es denkbar sei, eine wissenschaftliche Untersuchung durchzuführen, bei der eine Person, für die man unmittelbar gearbeitet hat, im Mittelpunkt steht. Da es sich beim Untersuchungszeitraum um einen anderen Lebensabschnitt handelte als die Jahre, in denen ich den Altbundeskanzler begleitet habe, hielt ich mein Vorhaben für durchführbar. Mir ging es um eine wissenschaftliche Aufarbeitung, weshalb ich stets darauf geachtet habe, Wissen, das er mir dienstlich anvertraute oder das ich auf gemeinsamen Reisen im In- und Ausland erhielt, nicht in diese Arbeit einfließen zu lassen. Helmut Kohl stimmte meinem Anliegen zu und gab mir im Rahmen meines Ausscheidens im Jahr 2010 auch schriftlich mit auf den Weg, dass ich aus seiner Sicht ein Dissertationsthema wählen könne, „das sich auf meinen politischen Lebensweg und mein politisches Handeln bezieht“.

Die Idee zu dem nun vorliegenden Ergebnis kam mir im Jahr 2007, da ich verschiedene in ihr behandelte Aspekte für zu wenig wissenschaftlich erforscht hielt. Zuvor hatte mir bereits Prof. Dr. Bernhard Vogel in einem Gespräch sehr zu einer Entscheidung für eine Doktorarbeit geraten. Der erste Ratgeber, dem ich das konkrete Thema vortrug, war Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf, damals Präsident der Universität Erfurt. Sodann sprach ich mehrfach mit Dr. Eduard Ackermann über die Thematik, der mir von den Presselagen, die er auch nach seiner Pensionierung täglich per Telefon vortrug, vertraut war. Das weite Themenfeld der Beratung in der Politik in ein konkretes Forschungsvorhaben zu fassen, erschien ambitioniert. Ich halte jedoch die Frage von Beratungsverhalten und der Nutzung von politischen Apparaten für einen der zentralen Aspekte für jeden, der politische Erfolge erzielen und Inhalte gemäß seinen Überzeugungen prägen will. Der politische Lebensweg von Helmut Kohl eignet sich für eine diesbezügliche Fallstudie in besonderer Weise.

Die Grundlage meines Dissertationsprojektes bilden die Gespräche mit den 46 Zeitzeugen. Für manchen meiner Gesprächspartner war es das erste Interview über den gemeinsamen Weg mit Helmut Kohl. Erste Vertrauensbildung am Telefon, lange Gespräche, Abstimmen der Zitate – einschließlich der schriftlichen Zustimmung der Zeitzeugen zu diesen. Einer schrieb mir im Rahmen der Freigabe seiner Aussagen: „Zu meinem Beitrag kann ich sagen, dass ich mit noch niemandem so offen über die Zeit damals gesprochen habe und es wohl auch nicht mehr tun werde.“

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Georg Milde